Freitag, 25. November 2022

„Die Beendigung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist machbar“



Jede dritte Frau in Deutschland hat körperliche und/oder sexualisierte Gewalt erlebt. Anlässlich des internationalen Tags zur Beendigung von Gewalt an Frauen spricht Stiftungsleiterin Karin Heisecke über die Wurzeln der MaLisa Stiftung, die Verantwortung von Medienschaffenden und eine Welt ohne geschlechtsspezifische Gewalt.

Foto: Sascha Radke

Aktuelles: Was waren die Impulse dafür, die MaLisa Stiftung zu gründen?


Karin Heisecke: Maria und Elisabeth Furtwängler hatten sich bereits seit längerer Zeit im Globalen Süden für die Beendigung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen engagiert. 2011 haben sie gemeinsam mit German Doctors das MaLisa Home gegründet, ein Schutzhaus für Mädchen, die auf den Philippinen von sexueller Ausbeutung betroffen sind. Angesichts der alarmierenden Zahlen zu Gewalt an Frauen hierzulande beschlossen sie dann, sich auch in Deutschland für Geschlechtergerechtigkeit und gegen Gewalt an Frauen und Mädchen einzusetzen. 


Wie kamen Sie an Bord?

Wir haben uns über eine gemeinsame Bekannte, die US-amerikanische Autorin und Aktivistin V (früher: Eve Ensler) kennengelernt. Ich hatte mit ihr und anderen bereits seit  den späten 1990ern an der Schnittstelle zwischen politischem Aktivismus, Medien und Kunst zu dem Thema Gewalt gegen Frauen gearbeitet. Als Maria und Elisabeth Furtwängler ihre Idee, eine Stiftung zu gründen, konkretisieren wollten, haben sie mich als Beraterin hinzugezogen. Gemeinsam haben wir erarbeitet, wo konkret in dem großen Themenfeld Gewalt gegen Frauen ihr wirkungsvollster Beitrag sein könnte.

Foto: Sascha Radke


Der Claim der Stiftung lautet „sichtbar heißt machbar“.


Uns war schnell klar, dass wir uns darauf fokussieren möchten, wie Medien und Kultur unsere Vorstellungen von Geschlechterrollen prägen. Einschränkende Vorstellungen und Bilder, wie ein “richtiger Mann” oder eine “richtige Frau” vermeintlich sein sollten, bieten den Nährboden, auf dem die Akzeptanz von patriarchaler Gewalt gedeiht. Maria Furtwänglers Verankerung in der Film- und Fernsehwelt ermöglichte uns, direkt in den Dialog mit der Branche zu gehen. Als Musikerin kennt Elisabeth Furtwängler wiederum Akteur*innen und Mechanismen in der Musikbranche sehr gut. Ein wichtiges Merkmal unserer Arbeit war von Anfang an die Vernetzung und das gemeinsame Wirken mit Partner*innen. 


Als wir unsere Arbeit begannen, gab es zum Thema Geschlechterdarstellungen in deutschen Medien noch wenig Daten, und Diskussionen um das Thema wurden eher basierend auf einzelnen Beispielen oder “Bauchgefühl” geführt. Ohne wissenschaftlich solide Daten ist es aber schwierig, zu erfassen, ob es eine Schieflage gibt, und dann wirkungsvolle Maßnahmen zu identifizieren, die helfen, dies zu ändern. 


Würden Sie einen kurzen Überblick zu den Studien der Stiftung geben? 


Unsere ersten Studien boten eine Bestandsaufnahme der Geschlechterdarstellungen in Film, Fernsehen, Streamingdiensten und Neuen Medien. Sie zeigten, dass Männer deutlich häufiger als andere Geschlechter in zentralen Rollen zu sehen sind, und dass die Art und Weise, wie Frauen inszeniert werden, eingeschränkt und stark an gängige Schönheitsideale angelehnt ist. Personen, die sich nicht nach der engen, binären Vorstellung von Geschlecht männlich/weiblich einordnen lassen, kommen so gut wie gar nicht vor.


Anlässlich der Pandemie hat die MaLisa Stiftung Studien beauftragt, die die Geschlechterverteilung in der deutschen Corona-Berichterstattung auswerten. Für die TV-Information (z.B. Nachrichten, Dokus, politische Magazine) wurde gezählt, wer zu Wort kommt und welche Themen behandelt wurden. Erschreckenderweise kam das Thema Gewalt an Frauen im Erhebungszeitraum nur einmal vor – und das, obwohl wir wissen, dass während der Pandemie Gewalt an Frauen und Mädchen zugenommen hat. Selbst wenn die Nennung von Gewalt in der Familie und Gewalt gegen Kinder dazu gezählt wurde, lag  der Anteil dieser Themen weit hinter beispielsweise Technik oder Sport.  


Eine von uns initiierte Studie zur Geschlechtervielfalt in der Musikwirtschaft und zur Musiknutzung ergab, dass nahezu jede der befragten Frauen schon einmal diskriminierende Erfahrungen in Bezug auf ihr Geschlecht gemacht hat.


Im November 2021 ist dann die Studie Geschlechtsspezifische Gewalt im deutschen Fernsehen veröffentlicht worden. Mit ihr liegt erstmals ein repräsentativer Überblick für deutsche Fernsehprogramme darüber vor, wie diese Gewalt dargestellt wird. Die Ergebnisse zeigten, dass geschlechtsspezifische Gewalt in rund einem Drittel (34 %) der Sendungen, quer durch alle Programmarten, vorkam. Häufig handelte es sich dabei um explizite und schwere Gewalt gegen Frauen und Kinder. Die Perspektive der Betroffenen wurde nur selten, explizit nur in circa acht Prozent der analysierten Fälle deutlich, ebenso fehlte weitgehend ein Blick, der die strukturellen Hintergründe der Gewalt behandelt. Ebenfalls fehlten Vorabhinweise auf die Inhalte und Informationen zu Unterstützungangeboten für Betroffene. Am häufigsten kam geschlechtsspezifische Gewalt in fiktionalen Programmen vor.


Wie können Medienschaffende von fiktionalen Inhalten bei diesem gesellschaftlich so dringlichen Thema Teil der Lösung werden?


Ein bewusster Umgang mit dem Thema ist wichtig. Derzeit vermissen wir noch  vielfältige Geschichten, die unterschiedliche Aspekte und  Perspektiven zeigen. Da viele Frauen und Mädchen, also auch die potentiellen Zuschauerinnen, tatsächlich Gewalt erfahren haben, ist  Fachwissen zur Thematik, auch bezüglich der möglichen Auswirkungen der medialen Darstellungen wichtig.  


Oft sind  sich Medienschaffende bewusst, dass sie hier noch in einem Lernprozess sind, und wir freuen uns, wenn wir sie dabei begleiten können. Einfach umsetzbare redaktionelle Maßnahmen sind zum Beispiel das Einblenden von Vorabwarnungen und von Unterstützungsangeboten für Betroffene. Die Editorial Guidelines und die Action Line der BBC können als Inspiration dienen. Bei dem Thema Suizid gibt es auch bei den deutschen Medien bereits einen bewussteren Umgang. 


Als Angebot für Medienschaffende hat die MaLisa Stiftung auf mediendiversität.de eine ausführliche Übersicht mit Handlungsoptionen, Tipps und Tools zum Umgang mit dem Medienthema „Gewalt gegen Frauen“, sowohl in journalistischen Formaten, als auch in der Fiktion zusammengestellt. Dort finden sich kurze und prägnante Leitfäden, die als Checklisten für den Redaktionsalltag geeignet sind, ausführlich einordnende Analysen von Gewalt gegen Frauen und Mädchen, aus dem deutschsprachigen Raum und international. Ein Beispiel ist auch die UFA. Sie ist unsere Partnerin für die Studie und hat sich im Kontext ihrer Diversity-Selbstverpflichtung auch mit der Darstellung von sexistischer und geschlechtsspezifischer Gewalt befasst.


Wir planen Workshops mit Medienschaffenden und haben in Kooperation mit dem Grimme Institut und der UFA Diskussionsrunden zum Thema veranstaltet. Zudem sind wir mit vielen Initiativen zu Geschlechtergerechtigkeit in Kultur und Medien vernetzt, wie etwa mit der Vertrauensstelle Themis, die sich für die Beendigung von sexueller Belästigung und Gewalt in der Film-, TV- und Theater- und Musikbranche einsetzt, und dem bundesweiten Bündnis gegen Sexismus.


Und wir sehen bereits positive Entwicklungen. Die Produzentin Iris Kiefer sagte kürzlich in einem Interview mit Blickpunkt Film: „Ich habe mir irgendwann einmal vorgenommen, keinen Film mehr zu erzählen, der mit einer ausgestellten, im schlimmsten Fall noch nackten Leiche einer jungen Frau beginnt….Wir schulden den Figuren, die wir erzählen, Respekt und mehr Komplexität.“


Wie sehen Sie die Berichterstattung zum Thema? Welchen Unterschied macht es, wie über Gewalt an Frauen und Mädchen berichtet wird und welche Fortschritte gibt es hier?


Die Berichterstattung prägt, wie Betroffene ihre Erfahrungen einordnen und wie die Gesellschaft über Gewalt an Frauen und Mädchen denkt. Medien können hier eine wichtige positive Rolle spielen, indem sie dazu beitragen, über das Thema zu informieren und Stereotype aus dem Weg zu räumen.


Es gibt noch Einiges zu tun, gleichwohl beobachten wir auch schon positive Entwicklungen. Medien haben einen differenzierteren Umgang mit dem Thema gefunden. Ein Beispiel dazu: Früher wurde in Berichten über Gewalt in der Partnerschaft häufig von „Ehedrama“ oder „Familiendrama“ gesprochen. Das ist verharmlosend und klingt eher nach Soap Opera als nach Gewaltdelikt. Initiativen wie der Verein Gender Equality Media (GEM) setzen sich gegen sexistische Berichterstattung ein. Nach einem offenen Brief von GEM 2019 hat die dpa, Deutschlands größte Nachrichtenagentur, angekündigt, ihr Wording zu überdenken


Welche Schritte muss die Politik gehen?


Die Istanbul-Konvention des Europarates ist bereits seit Februar 2018 geltendes Recht in Deutschland. Das heißt: Deutschland hat sich verpflichtet, auf allen staatlichen Ebenen Gewalt gegen Frauen und Mädchen vorzubeugen und sie zu bekämpfen. In seinem ersten Evaluierungsbericht hat der Europarat deutlich gemacht, wo es überall noch Lücken gibt und sieht „gravierende Defizite“. 


Zum Beispiel fehlen vor allem in ländlichen Gebieten Unterstützungsdienste und Frauenhäuser. Und auch in den Städten müssen Betroffene oftmals mit langen Wartezeiten rechnen. Insgesamt gibt es bisher keine übergreifende Strategie, die definiert, wie die Politik die Umsetzung koordiniert angeht. Da geht es um das ganze Spektrum von Prävention über Schutz und Hilfe für Betroffene bis hin zur Strafverfolgung. 


Laut aktueller Statistik zur Partnerschaftsgewalt sind 2021 in mindestens 115.342 Fällen Frauen Opfer von zum Teil schweren Gewalttaten durch ihre Partner oder Ex-Partner geworden. Und das sind nur die Fälle, die überhaupt zur Anzeige gebracht werden. Das ist ja nur ein kleiner Teil. Insbesondere bei sexuellen Übergriffen, aber auch bei Stalking und häuslicher Gewalt ist von einem sehr großen Dunkelfeld auszugehen, da viele Betroffene gar nicht erst zur Polizei gehen. Hier ist die Datenlage für Deutschland noch sehr dünn. Die letzte umfassende Prävalenzstudie der Regierung zu Gewalt gegen Frauen wurde 2004 veröffentlicht. Dass erst kürzlich eine neue Studie angeschoben wurde, deutet darauf hin, wie wenig Priorität das Thema in den letzten Jahrzehnten bei der Regierung hatte. 


Wir brauchen einfach mehr Daten und Wissen, um das Problem besser verstehen und effektive Lösungen entwickeln zu können. Hierzu zählt auch ein differenzierter Blick auf die Gewalt, die mehrfach diskriminierte Frauen erfahren, ebenso wie trans, inter und nichtbinäre Menschen. Kurz: alle, die von patriarchalen Strukturen betroffen sind. Insgesamt fehlt noch eine Analyse der negativen Auswirkungen dieser Strukturen auf unsere Gesellschaft. Sie treffen letztendlich Männer ebenso, auch wenn sie auf vielen Ebenen davon profitieren.

Auch das Thema Prävention scheint in einem toten Winkel zu liegen.


Die Verhinderung von Gewalt, bevor sie überhaupt passiert, bekommt in politischen Diskursen und in Kampagnen wenig Priorität. Oft geht es darum, die Gewalt sichtbar zu machen und Betroffenen zu helfen. Das ist zweifellos sehr wichtig, aber wenn wir Gewalt beenden wollen, ist eigentlich das Ziel, dass Gewalt gar nicht erst geschieht. Das wäre eine deutlich nachhaltigere Herangehensweise. Derzeit fühlt es sich so an, als ob wir darin feststecken, jedes Jahr die hohe Anzahl der Betroffenen zu bedauern, aber nicht den nächsten Schritt zu gehen, das Problem wirklich an der Wurzel anzupacken.


In Deutschland gibt es recht wenig Präventionsprogramme und noch weniger Forschung, die deren Wirksamkeit überprüft. Weder Regierung noch Stiftungen finanzieren diese Arbeit, obwohl dies dringend notwendig ist. Und selbst in Feldern, wo es Forschung gibt, die die Wirksamkeit nachweist, werden die Präventionsansätze bei politischen Entscheidungen nicht immer beachtet. Ein Beispiel ist die Wirksamkeit von feministischen Selbstbehauptungs- und Selbstverteidigungs-Trainings als Prävention von sexualisierter Gewalt. Hier gibt es bereits umfassende wissenschaftliche Belege, aber selten findet sich diese relativ einfach umsetzbare Maßnahme in politischen Strategien zu geschlechtsspezifischer Gewalt. Eine positive Ausnahme ist der kürzlich veröffentlichte Aktionsplan der Stadt München.

Foto: UN Women / Creative Commons


Was stimmt Sie zuversichtlich?


Gewalt gegen Frauen wird zunehmend in der Öffentlichkeit thematisiert. Ich bin zuversichtlich, dass sich bald eine kritische Masse von Menschen bilden wird, die nicht mehr bereit sind, den Status Quo zu akzeptieren. Eine Freundin von mir sagte einmal, sie wünscht sich, dass es zu dem Thema Gewalt gegen Frauen eine ähnliche Entwicklung gibt wie in den letzten Jahrzehnten zum Thema Rauchen. Früher war es in Deutschland normal, im Kino, Café oder im Zug zu rauchen, aber große Kampagnen und Gesetze haben in einem recht kurzen Zeitraum eine Verhaltensänderung in der Gesellschaft bewirkt. Inzwischen gibt es einen breiten Konsens, dass Rauchen die Gesundheit schädigt und deshalb an bestimmten Orten inakzeptabel ist. 


Wenn ernsthaft in Prävention investiert wird, kann die Mehrheitsmeinung sich dahingehend ändern, dass Gewalt an Frauen nicht mehr akzeptiert wird. Diejenigen, die sie ausüben, zahlen dann einen sehr hohen sozialen Preis. Und Betroffene müssen sich nicht mehr schämen, darüber zu sprechen, was ihnen angetan wurde. 


Derzeit gibt es in Deutschland noch wenig Männer, die sich für die Beendigung von Gewalt gegen Frauen einsetzen. Was mich zuversichtlich stimmt, ist, dass dies in anderen Ländern bereits der Fall ist. Aktuell erleben wir, im Iran oder auch in Südafrika, wie Männer sich an die Seite von Frauen und Mädchen stellen und gegen Unterdrückung und Gewalt kämpfen. Dies sollte in Zukunft auch hier möglich sein.


Manchmal habe ich das Gefühl, dass Gewalt gegen Frauen als eine Art Naturereignis, das sich nicht ändern lässt, wahrgenommen wird. Dabei ist die Gewalt beendet in dem Moment, wo diejenigen, die diese Gewalt ausüben, damit aufhören. Jede Person kann sich jederzeit  entscheiden, keine Gewalt auszuüben, selbst wenn sie es bisher getan hat. Die Beendigung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist machbar. Es ist wichtig, dies nicht aus dem Blick zu verlieren, sondern vielmehr, dass wir alle sehen, welchen Beitrag wir dazu leisten können.


Karin Heisecke ist Leiterin der MaLisa Stiftung und Expertin für Geschlechterfragen und internationale Politik. Für den Europarat verfasste sie die Handreichung Raising awareness of violence against women und berät Regierungen zur Umsetzung der Istanbul-Konvention.

Am 25. November ist internationaler Tag zur Beendigung von Gewalt an Frauen. Zu diesem Anlass fragt die MaLisa Stiftung Wegbegleiter*innen, Freund*innen, Verbündete und Journalist*innen: Wie wird eine Welt ohne Gewalt aussehen? Die Aktion ist inspiriert von einer Kampagne der Bewegung V-Day aus dem Jahr 2003. Die Fragestellung ist heute noch so relevant wie vor zwei Jahrzehnten. 


UNTERSTÜTZUNGSANGEBOTE FÜR BETROFFENE

Das Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen ist ein bundesweites Beratungsangebot für Frauen, die Gewalt erlebt haben oder noch erleben.

Das Hilfe-Portal Sexueller Missbrauch berät Jugendliche und Erwachsene telefonisch und online vertraulich und datensicher zu allen Fragen, die mit dem Thema sexueller Missbrauch zu tun haben.

Weiterführende Beiträge 

Entwicklungsminister Gerd Müller mit Maria Furtwängler. © Ute Grabowsky / photothek.net