Gewalt gegen Frauen: Wie kann Storytelling in der Fiktion Teil der Lösung werden?
Die Beendigung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist Ziel der MaLisa Stiftung seit ihrer Gründung im Jahr 2016. Medien prägen unsere Wahrnehmung der Realität und haben damit eine besondere Verantwortung – umso mehr, wenn es um ein gesellschaftlich so dringliches Thema wie geschlechtsspezifische Gewalt geht. Eine im November 2021 veröffentlichte, von der MaLisa Stiftung & der UFA GmbH initiierte und geförderte Studie bietet erstmals einen repräsentativen Überblick darüber, wie audiovisuelle Medien geschlechtsspezifische Gewalt darstellen. Daran knüpften 2022 mehrere Workshops und Branchenveranstaltungen an. Wie können Medienschaffende von fiktionalen Inhalten bei diesem gesellschaftlich so dringlichen Thema Teil der Lösung werden?
Jede Stunde werden in Deutschland mehr als 14 Frauen Opfer von Partnerschaftsgewalt. 432 Fälle von Gewalt in Partnerschaften hat es im Jahr 2022 im Durchschnitt gegeben – jeden Tag. Das ist ein Anstieg von 8,5 Prozent bei den Opferzahlen im Vergleich zum Vorjahr. Rund 80 Prozent der Opfer waren demnach Frauen, 78 Prozent der Tatverdächtigen waren Männer.
Diese Zahlen veröffentlichte das Bundeskriminalamt (BKA) gemeinsam mit Familien- und Innenministerium am 11. Juli 2023 im Lagebild zur häuslichen Gewalt.
Und das sind nur die Fälle, die zur Anzeige gebracht werden. Insbesondere bei sexuellen Übergriffen, aber auch bei Stalking und häuslicher Gewalt ist von einem sehr großen Dunkelfeld auszugehen, da viele Betroffene gar nicht erst zur Polizei gehen. Hier ist die Datenlage für Deutschland noch sehr dünn. Die letzte umfassende Prävalenzstudie der Regierung zu Gewalt gegen Frauen wurde 2004 veröffentlicht. Repräsentativen Befragungen zufolge erleben zwei von drei Frauen in ihrem Leben sexuelle Belästigung. Jede siebte Frau wird Opfer schwerer sexualisierter Gewalt. Frauen mit Behinderung sind zwei bis dreimal häufiger von sexueller Gewalt betroffen als Frauen ohne Behinderungen.
Kürzlich wurde von Innen- und Familienministerium zusammen mit dem BKA eine Studie angeschoben, die das Dunkelfeld ausleuchten soll, Ergebnisse werden jedoch erst 2025 vorliegen.
Eine aktuelle Umfrage der Initiative #DieNächste gegen häusliche Gewalt zeigt, dass mehr als jede*r Dritte häusliche Gewalt im eigenen Umfeld vermutet. Knapp die Hälfte der Befragten hält Auseinandersetzungen in einer Partnerschaft für Privatsache. Dieses Ergebnis legt nahe, dass häusliche Gewalt in der Gesellschaft noch immer mit einem Tabu belegt ist.
Zum medialen Umgang mit dem Thema Gewalt gegen Frauen
Das Ausblenden des Themas zeigt sich auch insgesamt in der Gesellschaft und Politik. Medien können in diesem Kontext eine wichtige Rolle spielen. Die im November 2021 veröffentlichte, von der MaLisa Stiftung & der UFA GmbH initiierte und geförderte Studie Geschlechtsspezifische Gewalt im deutschen Fernsehen der Hochschule Wismar, bietet erstmals einen repräsentativen Überblick darüber, wie audiovisuelle Medien geschlechtsspezifische Gewalt darstellen.
Die Ergebnisse zeigten, dass geschlechtsspezifische Gewalt in rund einem Drittel (34 %) der Sendungen, quer durch alle Programmarten, vorkam. Häufig handelte es sich dabei um explizite und schwere Gewalt gegen Frauen und Kinder. Die Perspektive der Betroffenen wurde nur selten, explizit nur in circa acht Prozent der analysierten Fälle deutlich, ebenso fehlte weitgehend ein Blick, der die strukturellen Hintergründe der Gewalt behandelt. Ebenfalls fehlten Vorabhinweise auf die Inhalte und Informationen zu Unterstützungsangeboten für Betroffene. Am häufigsten kam geschlechtsspezifische Gewalt in fiktionalen Programmen vor.
An die Studie knüpften im Jahr 2022 bereits mehrere Workshops und Branchenveranstaltungen an. Während es für journalistische Arbeit bereits verschiedene Leitfäden und Tipps für Medienschaffende gibt, ist dies für den Bereich Fiktion in Deutschland bisher noch nicht der Fall.
Dieser Bedarf ist inzwischen von einer wachsenden Zahl von Akteur*innen der Branche wahrgenommen und anerkannt. Am 13.9.2023 wird die MaLisa Stiftung gemeinsam mit WIFT Germany, dem Businessnetzwerk für Frauen in der Film- und Fernsehbranche und den digitalen Medien, dem Bundesverband Schauspiel (BFFS), dem Berufsverband Kinematografie (BVK) den Think Tank „Geschlechtsspezifische Gewalt in Kino, TV und Streaming. Unsere Verantwortung in Storytelling und Inszenierung“ organisieren. Die Runde bringt Vertreter*innen der verschiedenen Gewerke zusammen, bespricht good practices und entwickelt ein Impulspapier mit Lösungsansätzen.
Am 30.9.2023 wird Stiftungsleiterin Karin Heisecke im Rahmen des 45. Herbsttreffens der Medienfrauen an einem Panel zur Rolle von Medien bei der Berichterstattung über Gewalt gegen Frauen teilnehmen. Weitere Teilnehmerinnen sind Julia Cruschwitz, Mit-Autorin des Buches „Femizide. Frauenmorde in Deutschland“ und Daniela Suchantke, Geschäftsführerin des Landesfrauenrates Sachsen-Anhalt e.V.. Die Veranstaltung wird moderiert von Antonia Kaloff, Moderatorin MDR SACHSEN-ANHALT.
Tipps für Medienschaffende (Schwerpunkt TV, Fiktion)
Wie Medien über Gewalt gegen Frauen berichten, in welchem Kontext sie sie darstellen, welche Vorstellungen und (Rollen-)Bilder sie dabei vermitteln, beeinflusst die gesellschaftliche Wahrnehmung von Gewalt gegen Frauen, ihren Folgen und den Möglichkeiten, ihr entgegenzutreten.
Vor diesem Hintergrund kann die mediale Darstellung zur Prävention und Überwindung geschlechtsspezifischer Gewalt beitragen oder ihr im Weg stehen. Da jede dritte Frau ab dem Alter von 15 Jahren in Deutschland bereits Gewalt erfahren hat, ist es wahrscheinlich, dass sowohl ein entsprechender Anteil des weiblichen Publikums, als auch der an Produktionen beteiligten weiblichen Medienschaffenden Betroffene sind.
Wie können Medienschaffende von fiktionalen Inhalten bei diesem gesellschaftlich so dringlichen Thema Teil der Lösung werden? Im Folgenden einige Kernpunkte:
Darstellung von geschlechtsspezifischer Gewalt in fiktionalen Programmen
Fiktionale Erzählungen können das wichtige Thema geschlechtsspezifische Gewalt in die Breite kommunizieren. Dies ist sowohl mit einer gesellschaftlichen Verantwortung als auch mit einem Anspruch an kreatives Storytelling verbunden.
Wie es gelingen kann:
- Sich Fachwissen aneignen: mit Daten und Fakten, aktuellen Diskursen, Akteur*innen in dem Feld vertraut sein
- Expert*innen zum Thema in der Entwicklungsphase von Programmen heranziehen
- Einen stärkeren Fokus auf die Betroffenen-Perspektive legen (und damit auch die Vielfalt des Geschichtenerzählens – über die Täterperspektive hinaus – erweitern)
- Den gesellschaftlichen Kontext und die strukturelle Dimension der Gewalt deutlich machen
- Die Verantwortung gegenüber dem Publikum wahrnehmen: Einfach umsetzbare redaktionelle Maßnahmen sind zum Beispiel das Einblenden von Vorab-Hinweisen und von Unterstützungsangeboten für Betroffene. Die Editorial Guidelines und die Action Line der BBC können als Inspiration dienen.
- Das Aufgreifen der Themen und Informationen zu Unterstützungsangeboten in der Kommunikation / Social Media Arbeit zu den Programmen ist ebenfalls ein wichtiges Element. Der Umgang der Medien mit dem Thema Suizid kann hier als Inspiration dienen.
- Leitfäden oder andere maßgeschneiderte Tools für den Entwicklungs- und Produktionsprozess können die Arbeitsabläufe erleichtern.
Die UFA beispielsweise hat sich im Kontext ihrer Diversity-Selbstverpflichtung auch mit der Darstellung von sexistischer und geschlechtsspezifischer Gewalt befasst. Ihr aktueller Leitfaden enthält folgende Fragen:
Nur aus erzählerischen Gründen kann in Ausnahmefällen die Darstellung von Sexismus und sexualisierter Gewalt notwendig sein. In diesem Fall stellen wir uns folgende Fragen:
- Wozu dienen Szenen, in denen meine Protagonist:innen herabgewürdigt werden?
- Wozu dienen Szenen, in denen Menschen aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert werden?
- Welche Perspektive bediene ich in diesen Szenen?
- Sind die Szenen mit sexuellen Inhalten notwendig? Welche Perspektive bediene ich in diesen Szenen?
- Haben wir Expert:innen / Betroffene zur Beratung hinzugezogen?
Eine Verankerung der Themen bereits in der Ausbildung für Medienberufe – beispielsweise in Journalismus-Schulen und Filmhochschulen – kann hier eine wichtige Rolle spielen und nachhaltig wirken.
Geschlechtsspezifische Gewalt gegen Medienschaffende
Die Prävention von (sexualisierter) Gewalt und Machtmissbrauch im Kontext der Medienproduktion ist nicht nur eine gesetzliche Verpflichtung für Arbeitgeber:innen, sondern auch Voraussetzung für gute Arbeitsbedingungen im kreativen Prozess.
Wie es gelingen kann:
- Arbeiten mit Intimacy und Stunt Coordinators für Szenen, die Intimität oder (sexualisierte) Gewalt darstellen
- Alle Mitarbeitenden informieren, an wen Betroffene von sexueller Belästigung und Gewalt sich wenden können: eine interne Anlaufstelle, soweit vorhanden, und / oder die unabhängige Vertrauensstelle Themis, die sich für die Beendigung von sexueller Belästigung und Gewalt in der Film-, TV- und Theater- und Musikbranche einsetzt und psychologische und juristische Beratung für Betroffene anbietet. https://themis-vertrauensstelle.de/
- Wirksame, regelmäßige Präventionsmaßnahmen einführen (die Themis Vertrauensstelle empfiehlt fortlaufende Sensibilisierungsveranstaltungen, Anregung von Selbstreflexion im Team, Bereitstellung von Informationsmaterial, klare und unmissverständliche Positionierung gegen sexuelle Belästigung und den Einsatz von Betriebsvereinbarungen)
- Als Inspiration für den Bereich Fiktion könnten auch Selbstverpflichtungen und Berufsstandards / Codices, z.B. aus dem Journalismus, sowie aus anderen Ländern, dienen, z.B.
- ➔ Kodex für Medienhäuser: „Journalist*innen vor Gewalt und Bedrohungen schützen“
- ➔ International Federation of Journalists 2019 Guidelines for media and unions to combat online harassment of women journalists
- ➔ In Südafrika haben zahlreiche Vertreter*innen der Branche ein „Statement of Commitment for Gender Equality in South African Media“ (mit dem Ziel der Prävention von geschlechtsspezifischer Gewalt) unterzeichnet, das Selbstverpflichtungen in den drei Feldern „Gender-sensitive reporting“, „Un-stereotyping entertainment and storytelling“ und „Creating a safe and equal space “behind the scenes”“ umfasst.
Zum Weiterlesen: Tipps, Tools und Handlungsoptionen
Als Handreichung für Medienschaffende hat die Stiftung auf mediendiversitaet.de eine ausführliche Übersicht mit Handlungsoptionen, Tipps und Tools zum Umgang mit dem Medienthema „Gewalt gegen Frauen“ zusammengestellt. Das Spektrum reicht von kurzen und prägnanten Leitfäden, die als Checklisten für den journalistischen Redaktionsalltag geeignet sind bis zu ausführlich einordnenden Analysen von Gewalt gegen Frauen und Mädchen.
Die Stiftung bietet Medienschaffenden zudem auf Anfrage individuelle Begleitung und Unterstützung bei der Umsetzung. „Wir sehen bereits positive Entwicklungen und einen bewussteren Umgang mit der Thematik“, sagt Stiftungsleiterin Karin Heisecke.
Beendigung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist machbar
In einem Gastbeitrag auf Focus online lädt die Stiftungsleiterin die Leser*innen dazu ein, sich eine Welt ohne Gewalt gegen Frauen und Mädchen vorzustellen: „Die Beendigung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist machbar. Es ist wichtig, dies nicht aus dem Blick zu verlieren. Vielmehr stellt sich die Frage, welchen Beitrag wir alle selbst dazu leisten können: Stellen wir uns vor, wie die Welt, wie unser Alltag aussehen wird, wenn die Gewalt gegen Frauen beendet ist. Wie werden wir miteinander kommunizieren, wie werden wir uns verhalten, zuhause und im öffentlichen Raum? Was werden wir aufgeben können, was neu beginnen? Und was werden wir heute schon tun, um dieser Vision näher zu kommen?“
Die MaLisa Stiftung lädt mit einer Social Media Initiative Kolleg*innen und Wegbegleiter*innen dazu ein, ihre Vision der Zukunft zu teilen, in der die Gewalt gegen Frauen beendet wurde.
Hier gibt es die Tipps für Medienschaffende zum Download:
UNTERSTÜTZUNGSANGEBOTE FÜR BETROFFENE
Das Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen ist ein bundesweites Beratungsangebot für Frauen, die Gewalt erlebt haben oder noch erleben.
Das Hilfe-Portal Sexueller Missbrauch berät Kinder, Jugendliche und Erwachsene telefonisch und online Jugendliche und Erwachsene vertraulich und datensicher zu allen Fragen, die mit dem Thema sexueller Missbrauch zu tun haben.