Mittwoch, 1. September 2021

„Geschlechtergerechtigkeit ist ein Demokratie-Thema“

© Markus Nass

Wie kam es zur Gründung der MaLisa Stiftung? An welchen Projekten arbeitet sie? Und was gibt es noch zu tun, um einschränkende Rollenbilder in Kultur und Medien zu überwinden? In einem Interview mit dem Magazin Stiftung&Sponsoring geben Maria und Elisabeth Furtwängler Einblicke in ihre persönlichen Erfahrungen, ihr Engagement als Stifterinnen und die Themen, die ihnen auf den Nägeln brennen.


S&S: Die 2016 von Ihnen, Frau Dr. Maria Furtwängler (nachfolg. MF) und Ihnen, Frau Elisabeth Furtwängler (nachfolg. EF), errichtete MaLisa Stiftung setzt sich für die Stärkung von Frauen und Mädchen und für die Überwindung von geschlechtsspezifischer Diskriminierung in Deutschland ein. Wie ist die Idee entstanden, gemeinsam eine Stiftung zu gründen?

MF: Wir engagieren uns bereits seit längerer Zeit im Globalen Süden für die Beendigung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Durch meine Einsätze mit German Doctors e.V. hatte ich aus erster Hand erlebt, wie Frauen und Mädchen in vielen Teilen der Welt diskriminiert werden. Ich habe u.a. Frauen behandelt, deren Ehemänner versucht hatten, sie zu ermorden, um mit einer anderen Frau eine weitere Mitgift zu ergattern, und weibliche Babys, die stark unterernährt waren, weil sie aus Sicht ihrer Eltern weniger wert waren als die Brüder …

EF: Durch meine Arbeit mit Straßenkindern in Südostasien habe ich das Ausmaß des Menschenhandels dort erlebt, insbesondere wie Mädchen in die Prostitution verkauft wurden. Das hat mich nicht losgelassen. Um konkret zu helfen, haben wir 2011 gemeinsam mit German Doctors das MaLisa Home gegründet, ein Schutzhaus für Mädchen, die auf den Philippinen von sexueller Ausbeutung betroffen sind. Im Kontext dieser Arbeit haben wir uns dann intensiver mit den Diskriminierungen und der Gewalt, die Frauen und Mädchen hier in Deutschland erfahren, beschäftigt. Und wir beschlossen, auch vor der eigenen Haustür zu kehren und haben dafür die MaLisa Stiftung gegründet.


S&S: Als Mutter und Tochter gehören Sie zwei unterschiedlichen Generationen an. Inwiefern spiegelt sich dieses – ebenso wie Ihre unterschiedlichen Lebens- und Berufserfahrungen – in der Stiftungsarbeit wider?

MF: Als ich als Kind von einem Hund im Gesicht gebissen wurde, war die Sorge meiner Mutter, dass eine Narbe bleibt, und dass ich dann später keinen Mann finden würde. Solche Vorstellungen hatte ich nicht für Elisabeth.

EF: Ich war als Kind das, was man als „Tomboy“ bezeichnet, habe viel Sport getrieben (Skateboard, Tennis, Eishockey, Basketball und Fußball), das hat mir großen Spaß gemacht, bis ich ins Teenager-Alter kam, wo ich dann von meinen Freunden zu hören bekam, dass man so was als Mädchen nicht macht. Rollenzuweisungen an die Geschlechter waren also immer noch sehr präsent.

MF: Ich habe zunächst Medizin studiert und bin als Naturwissenschaftlerin sehr daten- und faktenaffin. Das schlägt sich auch in der Stiftungsarbeit nieder: Wir erheben zunächst solide Daten zum Thema Geschlechterdarstellungen in Medien und Kultur, aus denen wir dann ableiten, was die Schieflagen sind und wie diese behoben werden können. Meine Verankerung in der Film- und Fernsehbranche macht es für uns leichter, direkt in den Dialog auf Augenhöhe mit Medienschaffenden und Entscheider*innen zu gehen.

EF: Als Musikerin ist es für mich ähnlich, was unsere Arbeit zur Musikbranche betrifft. Wenn man weiß, wie die Leute in der Branche ticken, ist es leichter, die richtigen Hebel zu erkennen und zu nutzen. Und bei unserer Arbeit zu Social Media habe ich auch mehr praktische Erfahrung einbringen können (lacht). So ergänzen wir uns wunderbar in der Stiftungsarbeit.


S&S: Die MaLisa Stiftung ist eine der wenigen Stiftungen in Deutschland, die sich explizit für Gender-Gerechtigkeit einsetzt. Haben Sie eine Erklärung dafür, warum sich nicht mehr Stiftungen mit diesem gesellschaftlich so relevanten Thema beschäftigen?

EF: Wir waren sehr überrascht, dass es in Deutschland so wenige Stiftungen gibt, die zum Thema Geschlechtergerechtigkeit arbeiten. Dabei gibt es noch so viel zu tun: Frauen verdienen für gleichwertige Arbeit deutlich weniger als Männer, der Frauenanteil im Bundestag ist bei der letzten Wahl sogar zurückgegangen, in den Medien, in den Hochschulen, in der Wirtschaft sind Frauen unterrepräsentiert, die unbezahlte Sorgearbeit wird vor allem von Frauen getragen, und jede dritte Frau in Deutschland hat körperliche und/oder sexualisierte Gewalt erfahren, häufig von einem Partner oder Ex-Partner. Das ist ein skandalöser Zustand.

MF: Die Corona-Pandemie hat dies alles in der letzten Zeit noch verschärft. Die Dringlichkeit der Situation steht in keinem Verhältnis zu der geringen Aufmerksamkeit, die das Thema bisher in der deutschen Stiftungslandschaft erhält. Die Mitglieder des Stifterverbandes könnten hier sicher eine wichtige Rolle spielen, um eine wissenschaftliche Analyse dieses Sachverhalts anzuregen. Insgesamt gibt es noch so viel zu erforschen zu geschlechtsspezifischen Aspekten in allen möglichen Wissenschaftsfeldern.


S&S: Ihre Stiftung hat sich in ihren bisherigen Projekten schwerpunktmäßig mit ungleichen Geschlechterdarstellungen in Film, Fernsehen, Streaming sowie Musik und Sozialen Medien beschäftigt. Welche Wirkmacht haben audiovisuelle Medien nicht nur auf das Weltbild der Rezipient*innen, sondern auch auf deren gelebte Realität?

MF: Die Bilder, die wir über audiovisuelle Medien konsumieren, beeinflussen unsere Vorstellungswelt, also was wir für möglich – und richtig – halten. Wenn diese Medien uns eine Welt präsentieren, in der Frauen vor allem jung und schlank sind, jedoch so gut wie nicht als Expertinnen vorkommen, stellen sie ein komplett verzerrtes Bild unserer Realität dar. Die Konsequenzen haben sich gerade auch in der Corona-Krise gezeigt. Um sie zu bewältigen, braucht es die klügsten Köpfe, die ihre Expertise in die Lösungsfindung einbringen. In den politisch beratenden Gremien sowie in den Medien fehlten allerdings oftmals die vielen klugen Frauen. Eine von uns initiierte Analyse der Corona-Berichterstattung im deutschen Fernsehen im April 2020 hat gezeigt, dass von den Expert*innen, die zu Wort kamen, nur jede fünfte weiblich war. So entsteht das Bild, dass Expertise vor allem männlich sei.


S&S: Die MaLisa Stiftung hat für ihre Arbeit den diesjährigen Soroptimist Deutschland Preis gewonnen. Das Preisgeld fließt in die erste repräsentative Studie zur Darstellung von Gewalt gegen Frauen in den audiovisuellen Medien. Wurde die Dringlichkeit dieses Themas bisher nicht ausreichend öffentlich gesehen?

EF: Dass die erste Untersuchung dazu erst jetzt auf den Weg gebracht wird, spricht für sich. Männliche Gewalt gegen Frauen ist eine der am weitesten verbreiteten Menschenrechtsverletzungen mit starken Auswirkungen nicht nur auf die Betroffenen, sondern auf die ganze Gesellschaft. Wir alle leben in einem Klima, in dem hingenommen wird, dass Frauen Furchtbares angetan wird und die Täter – meist sind es Männer – nur selten zur Rechenschaft gezogen werden. Das behindert alle Bestrebungen für Geschlechtergerechtigkeit und damit für gesellschaftlichen Fortschritt.

MF: Die Medien können hier eine wichtige positive Rolle spielen, indem sie dazu beitragen, über das Thema zu informieren und Vorurteile aus dem Weg zu räumen. Wir wollen betrachten, inwiefern sie das tun, und falls nicht, wie sie unterstützt werden können, damit sich das ändert. Um Gewalt gegen Frauen zu beenden, können und müssen wir alle einen Beitrag leisten. Stiftungen in Deutschland bringen sich zu diesem Thema bisher noch nicht ausreichend ein, weder fördernd noch in ihrer operativen Arbeit.


S&S: Wie versuchen Sie, durch Ihre Zusammenarbeit mit Filmhochschulen und Produktionsfirmen das Bewusstsein der (zukünftigen) Medienschaffenden bzgl. einschränkender Rollenbilder und ihrer gesellschaftlichen Auswirkungen „ganz praktisch“ zu schärfen?

MF: Gemeinsam mit anderen Expert*innen bieten wir beispielsweise Workshops an, in denen ein Raum geschaffen wird für die Auseinandersetzung mit den Daten und Fakten und mit der eigenen Haltung zu dem Thema. Sich selbst zu hinterfragen, ist ein wichtiger Teil des Prozesses, und wir unterstützen die Medienschaffenden bei der Erarbeitung der Fragestellungen. Die Filmhochschulen haben sich vernetzt und in einem Positionspapier konkrete Selbstverpflichtungen gegeben, und wir unterstützen sie bei der Umsetzung. Dass die UFA sich im vergangenen November ebenfalls eine konkrete Zielsetzung für Diversität in ihren Produktionen gegeben hat, hat uns sehr gefreut und wir hoffen, dass es Kreise ziehen wird.


S&S: Mit welchen weiteren Akteur*innen und Initiativen für Diversität in Medien und Kultur (sowohl in Deutschland als auch international) arbeiten Sie zusammen?
EF:
Z.B. Pro Quote Film, Pro Quote Medien, dem Journalistinnenbund, den Neuen deutschen Medienmacher*innen, dem Projekt Leidmedien, dem LSVD und der Queer Media Society sowie Gruppen der Initiative „Vielfalt im Film“. Wir sind auch aktiv in einer Vernetzungsrunde mit vielen Initiativen zu Geschlechtergerechtigkeit in Kultur und Medien, ebenso mit der Vertrauensstelle Themis, die sich für die Beendigung von sexueller Belästigung und Gewalt in der Film-, TV- und Theaterbranche (und hoffentlich bald auch in der Musikbranche) einsetzt. International sind wir mit Initiativen, die uns auch als Vorbild dienen, vernetzt, z.B. mit dem Creative Diversity Network in Großbritannien, dem Women’s Media Center und Geena Davis Institute in den USA, internationalen Netzwerken wie European Women’s Audiovisual Network, WIFT International. Wir sind außerdem im engen Austausch mit einem sehr inspirierenden Projekt in Südafrika zur Rolle der Medien in der Prävention von Gewalt gegen Frauen, dort gibt es bereits ein breit aufgestelltes Bündnis und eine konkrete Selbstverpflichtung von Medienhäusern.


S&S: Dr. Maria Furtwängler, inwiefern merken Sie an den Ihnen angebotenen Drehbüchern oder Figuren, dass sich Veränderungen in der Gender-Darstellung ergeben? Inwiefern hat sich die eigentliche Produktion in den letzten Jahren verändert?

MF: Da mein Engagement bekannt ist, bekomme ich inzwischen eher Stoffe angeboten, die weniger stereotyp angelegte Charaktere erzählen. Ich nehme in der Branche ein insgesamt stärkeres Bewusstsein wahr, aber der „Reality Check“ steht ja noch bevor: Die Universität Rostock hat in einer Folgestudie die Diversität im deutschen Film und TV nochmals gemessen. Wenn die Zahlen vorliegen, werden wir sehen, was sich wirklich verändert hat. Als Produzentin habe ich natürlich auch direkten Einfluss darauf, welche Geschichten erzählt werden.


S&S: Elisabeth Furtwängler, in Ihrem kürzlich veröffentlichten Musikvideo zum Song „Privilege“ rappen Sie „privilege, privilege, it doesn ́t make me better / let ́s talk about what really matters“. Wie sind Sie sich Ihrer eigenen Privilegien bewusst geworden, und was bedeuten diese für Ihre gesellschaftliche Verantwortungsübernahme?

EF: Nach dem Abitur habe ich mehrere Monate mit Straßenkindern und in einem Waisenhaus auf den Philippinen gearbeitet. Ich wohnte in einem winzigen Zimmer, spielte mit den Kindern und half bei den Hausaufgaben. Eine junge Frau, die so alt war wie ich, hatte bereits drei Kinder von zwei Männern. Als ich zurück nach Deutschland kam, dachte ich nur: Wie leben wir hier? Worüber beschweren wir uns? Gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen, kann so viele Formen haben. Für mich ist mein Einsatz für Geschlechtergerechtigkeit ein wichtiger Teil. Die Inhalte, die ich in meiner Musik transportiere, ein weiterer. Auch, wie und mit wem ich arbeite – dass ich z. B. bewusst Musikerinnen mit einbeziehe, da in vielen Bereichen der Musikbranche Frauen nach wie vor ausgegrenzt werden und schlechtere Karrierechancen haben.


S&S: Ist die Politik gefordert, mehr dafür zu tun, Ungleichheiten vor allem auf struktureller Basis entgegenzuwirken – auch mit den Erfahrungen aus der Corona-Pandemie, die Frauen in vielfacher Hinsicht besonders belastet und z.T. auch benachteiligt hat?

MF: Ja. Dass die Familienministerin nicht Teil des „Corona-Kabinetts“ der Bundesregierung war, ist ein bezeichnendes Beispiel, und es wurde deutlich, welche Auswirkungen es hat, wenn in politischen Entscheidungen bestimmte Perspektiven nicht beachtet werden. Die bevorstehende Bundestagswahl bietet die Möglichkeit, hier neue Weichen zu stellen und die Wahlprogramme der Parteien daraufhin zu prüfen. Es geht hier nicht um „Frauen-Themen“. Geschlechtergerechtigkeit ist ein Demokratie-Thema.


S&S: Lassen Sie uns zum Gesprächsabschluss gemeinsam in die Zukunft schauen. Welche Entwicklungen geben Ihnen Anlass zur Hoffnung, dass das UN-Nachhaltigkeitsziel 2030 „Geschlechtergleichstellung erreichen und alle Frauen und Mädchen zur Selbstbestimmung befähigen“, das die Stiftung mit ihrer Arbeit explizit unterstützt, in Deutschland erreicht wird?

MF: Wir sehen ein stärkeres Bewusstsein und deutlichere Stimmen, die sich für Geschlechtergerechtigkeit aussprechen und Diskriminierungen nicht mehr hinnehmen. Soziale Medien werden von reichweitenstarken Aktivist*innen genutzt, um neue Dynamiken anzustoßen, Themen zu setzen und die Regierung zur Rechenschaft zu ziehen, damit sie ihrer Verpflichtung zur Umsetzung der UN-Nachhaltigkeitsziele nachkommt.

EF: Und ich nehme eine stärkere Solidarisierung wahr bei Sexismus und anderen Diskriminierungsformen. Dass die Verbindungen zwischen verschiedenen Arten der Diskriminierung stärker gesehen werden, stimmt mich auch hoffnungsvoll. In meiner Wahrnehmung ist die jüngere Generation hier schon weiter, aber ich sehe auch, dass sich in letzter Zeit tolle neue Bündnisse gebildet haben, über Altersgruppen und Gesellschaftsbereiche hinweg. So erreichen wir die kritische Masse, die es braucht, um das Patriarchat zu beenden.


Das Gespräch ist in der Ausgabe 4/2021 des Magazins Stiftung&Sponsoring erschienen und wurde von dessen Herausgeber, Erich Steinsdörfer, geführt. Es ist unter folgender URL abrufbar: https://susdigital.de/ce/geschlechtergerechtigkeit-ist-ein-demokratie-thema/detail.html. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Erich Schmidt Verlags. Alle Rechte vorbehalten.